Zwei Seelen

Es waren einmal zwei Seelen, die hießen Amelia und Molemann – zwei wirklich unruhige Wesen. Sie fühlten sich nicht zuhause in dieser Welt. Diese Welt hatte es bis jetzt ja auch nicht besonders gut mit ihnen gemeint. Die Eltern waren arm gewesen – arm an Geist und Sinn, an Zuwendung und Bereitschaft. Da beschlossen die Kinder, hinaus in die Welt zu gehen, um das zu suchen, was ihnen fehlte. Er reiste nach Osten, sie nach Westen. Ob­wohl sie in unter­schiedliche Richtungen reisten, war die andere Seele im Gepäck immer mit dabei. Sie mussten auch arbeiten, um Geld zu verdienen und so das Überleben zu sichern. Aber weder die fernen Länder, noch die Arbeit machte sie wirklich zufrieden. Diese Unzufriedenheit verband sie miteinander. Sie sprachen darüber, sie schrieben lange Briefe, um sich über all das, was ihnen auffiel, was sie störte aber auch was sie begeisterte, auszutauschen. Die Erkenntnisse des Einen nahm die andere Seele so auf, als hätte sie es selbst erlebt. Sie stellten sich eine Welt vor, die gut war, die aber draußen nicht zu erreichen war. So wuchs allmählich eine innere Gemeinschaft. Das fühlte sich gut an, das machte stark. Die Freunde und die nächsten Verwandte wunderten sich. Sie fragten: „Was haben die beiden? Was verbindet sie? Welches Geheimnis haben sie?“ Und wie das so ist mit Menschen, die wir nicht verstehen; wir wähnen sie außerhalb unserer Regeln. So werden sie zu Sonderlingen, zu Gesetzes­losen, zu Outlaws. Für die beiden aber war es eine großartige Sache. Sie gehörten nicht in diese Welt der Ignoranz, der Oberflächlich­keit. Sie bestätigten sich immer wieder gegenseitig, dass sie sich nicht an der Normalität der Anderen orientieren, sondern immer ihren eigenen Weg gehen würden. Was war das Resultat? Wie soll man es nennen, wenn man nicht zu den Anderen gehört, wenn man sich eher gegen die Anderen positionieren muss? Wie man es auch immer findet oder nennt, man steht dann halt außerhalb. Oder stehen umgekehrt die Anderen draußen und man selber ist in einer Gruppe? Wie man es auch dreht und wendet, auf jeden Fall gab ihnen diese Außen- oder Innen-Position das Gefühl, zusammen zu gehören.

So war das Leben gut zu ertragen. Die gegenseitige Versicherung: „Du bist in Ordnung!“ gab Sicherheit auch wenn es an verschiedenen Ecken dann doch nicht so rosig war. Denn die Bedrohlichkeit der Außenwelt führte paradoxerweise ja genau auch zu ihr hin. All diese Normalitäten der Freunde und der Familie, diese ursprünglichen Gefühle und Be­dürfnisse des Lebens, diese Sehnsucht. Ab und zu machte jeder der beiden einen Ausflug in die Welt der Anderen – wir nennen sie jetzt mal die Inlaws. Das sind dann die Men­schen, die sich keine Gedanken machen, ob es klug ist, so zu leben wie sie leben, die sich in ihren eigenen Irrwegen verlieren. Die einfach in der Welt weiter leben, in die sie geworfen wurden. Die sich nicht dauernd infrage stellen. Die allerdings oft genug da lan­den, wo sie sich geschworen hatten, niemals hin zu wollen. Die dieses Leben ein­fach widerspruchslos annehmen, weil sie auch glücklich unglücklich sind in dieser Ur­sprünglichkeit.

Und so geschah das Unvermeidliche und damit das Normalste auf der Welt.

Eines Tages kam eine Frau in Molemanns Leben. Die Frau hieß Rosamunde.

Mit ihr kam sein Leben zur Ruhe. Welche Eigenschaften besaß Rosamunde, dass sie eine solche Wirkung auf ihn hatte? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass er ab diesem Mo­ment etwas anderes ausstrahlte. Vielleicht eben diese Ruhe; vielleicht aber auch eine innere Zufriedenheit.

Wie schön für ihn.

Und wie enttäuschend für Amelia.

Sie forderte ihn auf, in ihr Leben der Outlaws zurück zu kommen. Er wunderte sich … er verstand nicht. Es war doch jetzt besser. „Ja vielleicht für Dich“, sagte Amelia, „aber ohne Dich kann ich mein gewohntes Leben nicht mehr führen. Ohne Dich kann ich ja kein Outlaw mehr sein.“

„Aber Du bist doch auch manchmal ein Mitglied der Inlaws”, entgegnete er. „Wenn Du dort bist, dann hast Du süße kleine Wesen um Dich herum, Du hast dort Freunde. Wo ist der Unter­schied?”

Und nun?

Leider fehlt uns die Fortsetzung der Geschichte. Ist sie verloren gegangen? Oder hat man vergessen, sie weiter zu schreiben?

Aufgeschrieben von Martin Hehl 2020