Sinnsuche

Nach dem Buch von Viktor Frankl „Wer Sinn sucht, findet Heilung“ Vorträge und Gespräche 1956-1994

Wir leiden vielfach an einem existenziellen Vakuum, das die innere Leere und Sinnlosigkeit massiv werden lässt. Dafür sind zwei Gründe maßgeblich: der Instinkt- und der Traditionsverlust. Weil der Mensch nichts mehr muss und nichts mehr soll, weiß er nicht mehr, was er will. Das Ge­fühl der Sinnlosigkeit schafft noogene Neurosen, Heilung erreicht man nur durch Sinnverwirklichung.

Nietzsche hat dies so formuliert: “Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt jedes Wie”. Nichts ist dem Menschen so unerträglich wie ein Leben ohne Ziele. Wo der Glaube zum Sinn fehlt, tritt an seine Stelle der Wille zur Macht, zum Geld oder zur Lust. Jeder kann einen Sinn finden, unabhängig von allen sonstigen determinierenden Faktoren. Viktor E. Frankl nennt drei Wege zur Erfüllung:

  • ein Werk schaffen,
  • jemanden in der Liebe erleben und
  • Leiden bewältigen. 

Seit wann gibt es eine Sinnsuche?

In früheren Zeiten gab es kaum eine Sinnsuche. Der Sinn war fraglos … und vor allem in die Religion eingebunden – kraft Tradition. Beides hat enorm an Wert verloren.

Gibt es neue Traditionen?

Nein! Entweder der Versuch mündet in Nostalgie – was dann eine aufgesetzte Tradition wird – oder es gibt Mode-Erscheinungen, die unbeständig sind, unecht und nicht auf einen wirklichen Wert verweisen.

Die Rangfolge der Sinnsuche

  • Die Gene sagen (diktieren) mir, was ich tun MUSS (unbewusster / animalischer Modus)
  • Die Tradition sagt, was ich tun SOLL
  • Weil all das verloren ging, weiß ich nun nicht mehr, was ich eigentlich WILL

Unbefriedigende Lösungen

  • Konformismus – ich tue das, was die Anderen tun
  • Totalitarismus – ich lasse mich von Anderen bestimmen 

Sinnproduzenten

  • Werbung
  • Meinungsmacher
  • Unterhaltungsbranche
  • Pauschalreisen
  • Kultur usw.

Alle diese und weitere Institutionen bieten mir eine Beschäftigung an, die mein eigenes unerfülltes Sinn-Erleben befriedigen soll. Das ist von vornherein ausgeschlossen, da mir niemand einen Sinn geben (verkaufen) kann. Ich MUSS ihn selber finden!

Sinnfindungsprozess

  • Meinen Lebens-Sinn kann mir niemand geben, denn dann wäre er aufoktroyiert – und nicht mehr von mir.
  • Ich kann ihn auch nicht von jemandem übernehmen, denn er ist nicht rezeptiv.
  • Ich kann ihn auch nicht erfinden! ( Adorno: Sinn hat eine objektive Qualität)
  • Vielmehr MUSS er von jedem für sich selbst entdeckt werden.

Sinnsuche umgedreht

Nach Frankl ist der Mensch gar nicht derjenige, der den Sinn finden soll. Vielmehr ist er vom Leben gefragt und muss nun antworten. Das Leben stellt Fragen und der Mensch gibt die Antwort.

Es ist eine Antwort in der Tat!

Eine aktive Antwort.

Sinn bedeutet ...

… etwas wofür ich mich einsetze, weil ich es für notwendig halte. Etwas wird von mir gefordert – oder wie es Goethe formulierte: „das ist die Forderung der Stunde“ – und ich komme der Forderung nach.

Selbstverwirklichung

Selbstverwirklichung ist nur möglich durch Sinnerfüllung bzw. durch Selbst–Transzendenz.

Selbst-Transzendenz

Die Selbst-Transzendenz ist ein Begriff der Existenzanalyse Viktor Frankls und bezeichnet den grundlegenden anthropologischen Tatbestand, dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweisen, das nicht wieder sie selbst sind, also etwa auf den Sinn, der gerade erfüllt wird oder auf Mitmenschen, mit denen er/sie in Kontakt ist. Indem ein Mensch auf eine solche Weise sich selbst transzendiert, verwirklicht er zunächst auch sich selbst, z. B. im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einem anderen Menschen. Der Mensch genügt – nach Ansicht Frankls – von seinem Wesen her niemals sich selbst allein, sondern ist auf die Ergänzung durch andere Menschen angewiesen. Voraussetzung für die Selbst-Transzendenz sind ein gewisses Maß an Selbstdistanzierung und Werte als äußere Referenzpunkte, die Menschen eine Orientierung geben. Mit dieser Konstitution eines Menschen geht auch sein Vermögen zum Dialog und zur Begegnung einher. 

Verwendete Literatur
Stangl, W. (2021). Stichwort: ‘Selbst-Transzendenz – Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik’. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/15949/selbst-transzendenz (2021-11-29)

Werte

Frankl unterscheidet drei Werte (Wert-Maßstäbe), die den Menschen kennzeichnen bzw. mit denen das Menschsein verbunden ist:

  1. Schöpferische Werte – z.B. in der Arbeit … im Schaffen.
  2. Erlebniswerte – zum Beispiel das Erleben von Kunst und Kultur aber auch das Erleben des Anderen in seiner Einzigartigkeit – also der Liebe.
    Letztlich auch alle anderen Erfahrungen der »Vita activa« im Sinne von Hannah Arendts umfassender Analyse. Diese lässt sich aber genauso gut zu den schöpferischen Werten einordnen.
    Quelle: Vita_activa
  3. Einstellungswerte – Diese hat Frankl als Ergänzung zu den beiden vorgenannten Wertvorstellungen hinzugefügt. In anderen Quellen waren sie bis dato nicht explizit genannt worden.

 

Was versteht Frankl unter Einstellungswerten?
Wenn ich an einer negativen Situation nichts ändern kann, dann ist es zwecklos, gegen das Unveränderliche zu kämpfen oder auch an der Unveränderbarkeit des Gegebenen zu verzweifeln. Sinnvoll ist vielmehr, das Gegebene zu akzeptieren und das Gute daran zu erkennen und zu leben. Dazu muss es mir gelingen, meine Einstellung dazu zu verändern.

An dieser Stelle könnte ich auch einen bekannten Spruch zitieren: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen“ der übrigens Martin Luther zugeordnet wird. Das geht zwar in die Richtung der Einstellungswerte, verfehlt aber das Ziel; denn ich möchte ja etwas tun, was morgen noch Bestand hat.

Für mich persönlich ist das mit einer positiven Vision auf die Zukunft … auf das Alter verbunden:

  • „Wenn ich alt werde, dann spiele ich nicht mehr Badminton, sondern ich wandere – und zwar mit Freude.“
  • „Wenn ich im Rollstuhl sitze, dann beklage ich nicht mein Schicksal, sondern schreibe ein Buch … und schenke damit der Welt meine Erkenntnisse“ – wie z.B. Steve Hawkins.

Da fällt mir noch ein anderer Spruch ein:
„Vor lauter Angst vor dem Tod vergessen die Menschen zu leben“

Die noogene Depression

Dem Leben keinen Sinn abgewinnen können

Frankl konnte bei Menschen eine Art Depression ausmachen, die nicht mit den bisher bekannten Ursachen zu erklären war und die auch nicht mit den üblichen  Psychopharmaka behandelt werden konnte. Als Grund sah Viktor Frankl die ungelöste Sinnfrage an. Nach dem Denkkonzept der Existenzanalyse stellt die Sinnfindung im eigenen Leben das primäre Bedürfnis des Menschen dar: welchen Sinn sehe ich in dem, was ich heute tue, in dem, was ich für dieses Jahr geplant habe, in dem Beruf, den ich gewählt habe, in meinem persönlichen Leben mit dessen gesamten Planung und Perspektiven? Wenn der Mensch auf diese Fragen keine befriedigenden Antworten findet, wenn demgemäß die Sinnfindung bisher unbefriedigend verlief, sucht er nach Ersatzbefriedigungen, um die innere Leere, die aus dieser missglückten Sinnsuche resultiert, zu übertönen. Diese innere Leere, die psychisch als sehr unangenehm wahrgenommen werden kann, bezeichnete V. Frankl als „existentielles Vakuum“, ein Zustand, der im Leben eines jeden Menschen phasenweise auftreten kann und an sich noch keine Psychopathologie darstellt, sondern einen normalen Faktor im Rahmen adaptiver Prozesse.

Ein langzeitig anhaltendes „existentielles Vakuum“ kann schließlich in einen seelischen Leidenszustand münden, den Frankl als noogene Depression bezeichnete, in Anlehnung an sein Betrachtungsbild des Menschen als dreidimensionales Wesen, aufgespannt zwischen der körperlichen (biologischen), der seelischen (psychologischen) und der geistigen (noetischen) Dimension.

Diese noetische Dimension definierte Frankl als spezifische menschliche Ebene, in der das Wertesystem des Menschen beheimatet ist, aber auch die Spiritualität des Menschen und die Frage nach dem Sinn in seinem Leben (nicht zu verwechseln mit der philosophischen Frage nach dem Sinn des Lebens an sich). Weiterhin ermöglicht diese noetische Dimension dem Menschen, zu sich selber Stellung zu beziehen, zu sich selber quasi auf Distanz zu gehen, sich aus dieser (geistigen) Distanz selber zu betrachten und zu beurteilen. Führt eine ungelöste Sinnfrage über die genannte Entwicklung zu einer noogenen Depression, erweist sich diese erwartungsgemäß gegenüber einer medikamentösen Therapie als weitgehend therapieresistent, d. h. es ist durch Psychopharmaka bestenfalls eine bescheidene Besserung der Symptomatik erzielbar, da der Auslöser der Störung durch die medikamentöse Therapie nicht beeinflusst bzw. beseitigt wird.

Verwendete Literatur
Paschinger, Pirker-Binder: Existenzanalyse und Logotherapie
noogene Depression