Burn fat, not oil

Niederlande – oh Du geliebtes Fahrrad-Land (Oktober 2020)

Mit dem Fahrrad auf den niederländischen Küstenstrecken – das sollte ein Vergnügen sein. Insbesondere auf der Halbinsel Walcheren in Zeeland sind mir die Wege seit vielen Jahren ein Garant für herrliche Erlebnisse auf dem Fahrrad. Hier gibt es wunderschöne Strecken entlang der Nordseeküste. Von Vlissingen im Süd-Westen gestartet, kann man Richtung Norden fahren bis Zouteland. Dann weiter nach Westkapelle, um hier in Rich­tung Osten zu wechseln. Es geht dann weiter über Domburg nach Vrouwenpolder, wo man die Fahrradtour nach gut 40 km beenden kann oder man radelt weiter auf die nächs­te Halbinsel.
Einfach nur schön! Mit dieser herrlich frischen Nordseeluft, mit dem typischen Land­schaftsbild von lieblich bis rau. Dabei sind die Fahrradwege gut ausgebaut und so breit, dass man auch zu zweit nebeneinander radeln kann. Es gibt nichts, was die Fahrfreude trüben könnte.

So war es einmal – so ist es jetzt nicht mehr!

Denn – jetzt es gibt etwas, was einem den ganzen Spaß verdirbt: es ist die ungeheure Masse von Menschen, die sich jetzt hier im Spätsommer des Jahres 2020 tummelt. Es ist sowieso ein langjähriger Trend, dass immer mehr Menschen Urlaub in den Niederlanden machen wollen – allen voran die Deutschen. Das hat gute Gründe, von denen ich gleich einige nennen werde. Und in diesem Jahr 2020 kommt noch der Corona-Ausbruch dazu. Das betrifft dann jene Menschen, die ihre ursprünglich geplanten Urlaubsziele gar nicht ansteuern konnten. Die Niederlande als Urlaubs-Notbehelf.

Ich persönlich glaube einen ganz anderen, ausschlaggebenden Grund für einen Nieder­lande-Urlaub gefunden zu haben: eine steigende Isolierung bzw. Vereinzelung der Men­schen. Zumindest sehe ich das so bei uns Deutschen. Und was macht man gegen Einsam­keit? Man kauft sich einen Hund.

Was hat das mit den Niederlanden zu tun?
Hier meine Antwort: Auch Hundebesitzer müssen irgendwie Urlaub machen, was mit Hund kompliziert sein kann. Nicht jedoch in den Niederlanden: mit dem Auto kann das Tier problemlos und unbürokratisch an die niederländische Nordsee-Küste gefahren wer­den. Dann die Leine los und Hundchen kann endlich frei laufen.

Und es gibt viele Hundebesitzer – und es werden von Jahr zu Jahr mehr. Ein paar Zahlen gefällig? Inzwischen gibt es 8 Mio. Hunde in Deutschland. Vor 15 Jahren waren es übri­gens nur 5 Mio. Rechnet man 2 Personen pro Hund, dann suchen 16 Mio. Deutsche einen Urlaubsort, den sie mit ihrem 4-Beiner besuchen können.

bicycle with dog

Bei diesem derzeit herrschenden schönen spätsommerlichen Wetter ist momentan das halbe Ruhrgebiet in den Niederlanden unterwegs. Was machen die hier alle? Seit mehr als zehn Jahren komme ich hierher und bisher war es angenehm, weil es viel Platz gab. Aber nun diese Menschenmasse!

Dieses Gedränge stört mich gewaltig. Und diese Masse wälzt sich jetzt mit ihren Draht­eseln auf den wunderbaren Fahrradwegen durch die Dünenlandschaft.

Einstmals wunderbar … muss ich hier einschränken; denn jetzt sind sie eng, unüber­sicht­lich und gefährlich. Warum gefährlich? Weil hier ganz unterschiedliche Menschen mit ganz unterschiedlichen Ansprüchen die gleiche Straße für ihre unterschiedlichen Bedürf­nissen benutzen wollen.

Wer fährt denn hier?

Hier ist alles vertreten. Die größte Gruppe ist wohl die der Rentner. Woran liegt das? Zum Einen ist gerade keine Ferienzeit, weshalb alle Familien mit Kindern nicht unter­wegs sein können. Zum Anderen sucht man als älterer Mensch im Urlaub nicht mehr die Herausforderung oder sogar das Abenteuer. Eher möchte man sich entspannen und die freie Zeit genießen. Man hat ja nun genug gearbeitet. Genug gespart hat man auch oder die Rentenkasse sorgt für den entspannten Lebensabend. Es gibt also viel freie Zeit und genug Geld und beides muss jetzt genutzt werden. Da habe ich ja nichts dagegen, ist ja in Ordnung; aber warum gerade hier? Bisher seid Ihr doch auf der Aida geschippert. Oder es war der Flug auf die Kanarischen Inseln dran … und Mallorca war auch gut besucht. Warum stört Ihr mich hier in meiner gewohnten Ruhe?

Wegen Corona!

Die nächste Gruppe in meiner Statistik ist die der ‘Rennfahrer’ – und das ist in den Nie­derlanden wirklich keine kleine Gruppe. ‘Rennfahrer’ nenne ich diese eher jungen und sportlichen Typen – und ja, sie sind fast alle dem männliche Geschlecht zuzuordnen. In schickem Dress und mit tiefem Rennrad-Lenker wollen sie besonders schnell voran kom­men. Das geht aber nicht – sie kommen nicht an den Rentnern vorbei oder wer sich auch immer in ihren Weg stellt. Ganz schlecht gelaunt werden sie, wenn der Verkehr tatsäch­lich ganz zum Stehen kommt, weil gerade eine zusammenhängende Gruppe von Fahrrad­fahrern angehalten hat, um den richtigen Weg auszudiskutieren. Man ist halt mit sich selbst und seinem eigenen Problem beschäftigt und merkt nicht, dass man andere am Weiterkommen hindert. Das ist ganz übel für die Rennfahrer! Warum? Nun, sie haben keine Klingel. Das hat man nicht als Rennfahrer – zu viel Gewicht.

Und so geht das weiter – es gibt noch viele andere Fahrrad-Typen, als da wären die Fami­lien, junge Leute, alte Leute, Paare, die unsicheren Fahrer, die Spaß-Fahrer und so wei­ter. Und alle wollen sich auf ihre Weise freizeitmäßig betätigen, wollen sich erholen und Spaß dabei haben. Und je mehr es sind, umso weniger funktioniert das. Das Indivi­duelle geht verloren, wenn es nicht genug Raum zur Entfaltung für den Einzelnen gibt.

biking

Regeln und Berechenbarkeit

Gibt es für den Autoverkehr klare Regeln, so fehlen sie für die Radwege. Nein – nicht ganz; es gibt ungeschriebene Regeln. Sie gelten auf der ganzen Welt – außer in England, wo man mit dem Fahrrad links fahren muss – und basieren auf dem menschlichen Ge­wohn­heiten.

Sie gelten z.B. auch beim ganz großen Fahrrad-Event, der Tour de France. Da gibt z.B. die Schnappschuss-Jäger, die noch schnell das Foto von ihrem Idol machen wollen. Sie springen auf die Fahrbahn, drücken ab und springen dann ganz schnell wieder zurück. Das Zurückspringen ist dann eine dieser Regeln. Wer sie nicht befolgt – und das kommt bei der Tour immer mal wieder vor – landet im Krankenhaus, oft zusammen mit dem Rad-Profi.

Hier ist es ähnlich – wenn auch nicht ganz so spektakulär. Eine kleine Unachtsamkeit und es kracht. Und das sehe ich auch immer wieder vor meinem geistigen Auge: jetzt ist es gleich so weit. Und in meiner Phantasie ist es immer gleich eine Massen-Karambolage. Aber erstaunlicherweise geht es dann doch gerade noch mal gut, weil einer der Beteilig­ten in der letzten Zehntel Sekunde ausweicht. Er hielt sich dann doch an die Regeln. Wun­der ohne Ende: ich habe bei meinen Touren in den Niederlanden selbst noch keine Massenkarambolage erlebt.

Die notwendige Berechenbarkeit schließt übrigens kleine Kinder auf den Fahrrad-High­ways in den Niederlanden aus. Kinder fahren nun mal nicht so streng und konzentriert in ihrer Spur. Aber das ist hier unumgänglich und es wäre aus Gründen der Fahrsicherheit un­verantwortlich – für alle Beteiligten – wenn sich hier ein Verkehrsteilnehmer nicht be­rechenbar verhält; egal ob es bewusst oder unfreiwillig unbewusst geschieht. Deswegen tut mir diese Gruppe der Familien mit Kindern – sagen wir mal so bis sechs Jahren – wirk­lich Leid. Weil sie – als schwächstes Glied in diesem Kampf um den Platz auf der Straße – nicht wirklich einen unbeschwerten gemeinsamen Fahrrad-Urlaub machen können.

Auch habe ich hier schon ‘Spaß-Fahrzeuge’ erlebt, für die Ähnliches gilt. Was verstehe ich darunter? Für mich sind das 4-rädrige Spielzeuge aus Stahlgestänge, mit denen die ganze Familie gemeinsam unterwegs sein kann. Vorne zwei Lenkräder. Papa sitzt am richtigen Lenker, Sohnemann hat nur den Spielzeuglenker vor sich. Mutti und Tochter sitzen übli­cher­weise hinten. Das Ding fährt nicht besonders schnell, braucht aber Platz für zwei Fahrräder nebeneinander und ist daher schwer zu überholen. Außerdem greift Junior im­mer wieder ans echte Lenkrad – er hat den faulen Trick durchschaut – und das Gefährt ge­rät ins Schlingern. Aber keine Angst – das geht vorbei. Die Familie auf diesem Jux-Fahrzeug erhält so viele böse Blicke, dass selbst die ganz Abgebrühten auf eine zweite Ausfahrt verzichten.

Beobachtungen

Bei all diesen Gefahren und Einschränkungen habe ich dennoch großes Interesse daran, die Menschen zu beobachten, die um mich herum sind. Ich frage mich: Was sind das für Menschen, die hier Fahrrad fahren bzw. es versuchen? Es sind größtenteils Rentner – das habe ich schon geschrieben. Vornehmlich Deutsche, aber auch Einheimische. Die Nieder­länder gehen etwas geschickter mit dem Fahrrad um. Kein Wunder: das Fahrrad ist das Verkehrsmittel Nummer eins in den Niederlanden. Sowohl vom Mengenverhältnis als auch von der Rangordnung her. In Deutschland ist das Auto die Nummer eins – in beiden Kate­gorien. Deswegen fahren viele Deutsche immer noch Auto … selbst wenn sie Fahrrad fah­ren.

Deutsche und Niederländer – worin unterscheiden sie sich grundsätzlich beim Fahrrad­fahren?

Will ich hier jetzt Vorurteile verbreiten? Nein! Es handelt sich nicht um Vorurteile, son­dern um Tatsachen, die allerdings auch Ausnahmen zulassen. Ich selbst z.B. bin Deut­scher und habe viele deutsche Eigenschaften, fahre mit dem Fahrrad aber holländisch … jedenfalls inzwischen. Weil ich erkannt habe, dass es angenehmer und auch netter ist … für die Anderen UND für mich.

Ich will mal den Typ Holländer auf dem Fahrrad kurz skizzieren.

Er hupt bzw. klingelt nicht. Weder als Beschwerde und auch nicht zur Warnung – was manchmal auch gefährlich werden kann.
Wenn jemand vorweg fährt und keinen Platz macht, dann bleibt der Holländer so lange hinten daran, bis der Vordermann es merkt.
Der Holländer weicht aus. Egal ob er Vorfahrt hat oder nicht.
Der Holländer freut sich und reagiert, wenn man Kontakt aufnimmt.
Der typische Deutsche macht es anders. Für ihn geht es nach Verkehrsregeln: wer hat Vorfahrt? Und wenn es nicht so flott vorwärts geht – wie er (oder manchmal auch sie) sich das vorstellt – dann liegt es meistens da dran, dass sich wieder Einer nicht an die Regeln hält … und das ist natürlich der Andere.

Burn fat - not oil

Der typische deutsche Fahrrad-Michel hat übrigens ein E-Fahrrad. Mit dem tritt er vor­nehmlich paarweise auf: er vorneweg, damit er den Weg für sie frei machen kann. Beide haben Übergewicht – mal mehr, mal weniger. Sie sind topp ausgerüstet: Helm in passen­der Farbe zum Fahrrad – und das alles im Partnerlook. Handschuhe und oft genug auch das Fahrrad-Dress – natürlich auch im Partnerlook. Zum E-Fahrrad gehört selbstver­ständ­lich auch der Heckträger fürs Auto. Abklappbar – na klar und mit beleuchtetem Num­mern­schild.

Komplettpreis für diese E-Fahrrad Ausstattung: 10.000,- EUR. Verständlich, dass man mit so einem Fahrrad auch schnell fahren will. Man hat ja schließlich viel Geld bezahlt. Zu­dem ist nun auch die mangelnde Kondition oder das Übergewicht nicht mehr der Hemm­schuh; jetzt stören nur diese altmodischen Fahrradfahrer, die den Weckruf des Fort­schritts noch nicht gehört haben. Sie schleppen sich mühsam – und langsam – den Berg hinauf, während die E-Biker hinten dran hängen und ungeduldig auf die nächste Überhol­möglichkeit lauern.

Gleich bei der ersten kurzen Radtour habe ich den folgenden Spruch auf dem T-Shirt eines entgegen kommenden sportlichen Radfahrers gelesen: „Burn fat – not oil“

Was er wohl damit vermitteln wollte? Meinte er etwa die neue Kaste der Luxus-Fahrrad-Fahrer … die E-Biker?

Jetzt komme ich noch mal auf den Hund zurück.

Wie kann man jetzt Fahrradfahren mit Hundchen kombinieren? Mit der schrecklichsten Erfindung seit Jahren: mit dem Hunde-Fahrrad-Anhänger (HFA), der vor einigen Jahren als Abkömmling des durchaus sinnvollen Kinder-Fahrrad-Anhängers (KFA) auf den Markt kam und inzwischen wohl höhere Verkaufszahlen zu verzeichnen hat als das Ursprungs-Modell.

Dabei kann ich mich gut an die Anfangszeit dieser HFA’s erinnern. Damals saßen unglück­liche Tierchen darin. Sie jaulten allen die es hören wollten zu: „Holt mich hier raus. Ich laufe doch viel schneller und auch mit viel mehr Ausdauer als Herrchen oder Frauchen. Und vor allem: mir macht das Laufen ganz viel Freude. Aber jetzt sperren sie mich hier ein.“

Heute sitzen diese Tierchen apathisch in ihren rollenden Gefängnissen und sagen gar nichts mehr. Sie passen sich dem Menschen immer mehr an. Umgekehrt wäre es wahr­scheinlich besser: Burn fat – not oil

Liebe Hundebesitzer: der Hund nimmt seine Umgebung nicht durch schöne Plexiglas-Fenster in seinem HFA wahr. Vielmehr geschieht diese Wahrnehmung vornehmlich durch den Geruchssinn.  Dazu muss er laufen können.

Der ultimative Fahrrad-Urlauber hat also ein E-Bike, ist modisch gekleidet, wobei Mar­ken-Sportwäsche das Mindeste ist. Hinten am Fahrrad hängt der HFA. Insasse ist ein Hund der zurzeit angesagten Hundemarke (oder darf man bei Hunden noch Rasse sagen?), zur­zeit übrigens ein Labrador Retriever. Als nächstes wird bestimmt eine Pan­nenautomatik angeboten. Bei einer Panne sendet das defekte E-Bike eine Meldung an den örtlichen Fahr­rad-Pannendienst. Das defekte Bike wird dann zur nächsten Werkstatt gebracht so­wie der Besitzer mit einem Ersatz-Fahrrad ausgestattet.

Schöne neue Welt – sage ich da nur – aber wird damit auch alles besser?

Fazit

Aus der entspannten Urlaubssituation heraus und begonnen mit großer Gelassenheit, bin ich kurz vor dem Ende der siebzehn Kilometer langen Strecke ein Nervenbündel, das hoch angestrengt immer noch versucht, den Fahrradfahrer-Dschungel vor mir zu durch­dringen, um die Lücke zu finden, mit der ich alle andern ein für allemal hinter mir lasse.

So verliefen jedenfalls die ersten Fahrradtouren. Dann wurde mein Fahrstil immer hol­ländischer – ich hab es bereits erwähnt, wie das geht. Und irgendwann war es mir dann egal. Ich habe die E-Biker vor gelassen – auch mit HFA. Und habe mich geduldig hinter Fahrrad-Paare gehalten, bis sie mich bemerkt und Platz für mich gemacht hatten.

Jetzt macht es mir wieder Freude, hier zu fahren. Diese herrliche Luft, die netten Men­schen, die armen Hunde … nächstes Jahr bin ich wieder bei Euch.

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